Aus dem Nachlaß von Hermann Abels.
I.
Daß Aschendorf ein uralter bewohnter Ort ist, der schon früh Bedeutung gehabt hat, steht außer Zweifel, sowie auch, daß es, ebenso wie eine dichte Reihe großenteils ebenfalls in unsern frühesten schriftlichen Dokumenten mit ihren Namen erwähnter Nachbarorte, diese Bedeutung auch wesentlich dem Umstande zu verdanken hat, daß es unmittelbar an einer alten geschichtlichen Volksstammes=Grenze liegt, nämlich der zwischen dem Altsachsen= und dem Friesenlande. Diese Scheidegrenze war in alter Zeit von noch größerer Bedeutung, da in dem letzteren Gebiete die altfriesische Sprache herrschte, welche in Ostfriesland seit dem 15. Jahrhundert mit der Mundart der niedersächsischen Küstenstämme vertauscht wurde, so daß an die Stelle einer Sprachgrenze nur eine Mundartgrenze übrig blieb.
Weiterhin ist es als eine ungewöhnliche Erscheinung zu werten, daß das alte Gebiet des Aschendorfer Kirchspiels, das nördlich bis an die ostfriesische Grenze und südlich an das uralte Kirchspiel Steinbild sowie an einen Teil des Hümmlings reichte, zugleich einen eigenen altsächsischen Gau bildete, den Laingo (oder Lagingo), der nachweislich seit Einführung der Grafen im Reiche Karls d. Gr. mit dem nördlich an ihn stoßenden friesischen Emsgau (bis eingeschlossen Emden) militärisch mitverwaltet wurde, also zum Aufgebot Ostfrieslands, nicht zu dem des südlich an ihn stoßenden Agredingo mit rein sächsischer Bevölkerung gehörte. Im übrigen behielt der Laingo seine selbständige Verwaltung, und nicht der geringe Umfang des Laingo kommt hier in Frage – kleine Gaue waren im altsächsischen Gebiete zahlreich vorhanden – sondern die für das militärische Aufgebot geltende Gemeinsamkeit eines altsächsischen mit einem altfriesischen Gebiet, die einzig dazustehen scheint.
Eine weitere und wohl hiermit im Zusammenhange stehende Erscheinung beachtenswerter Art ist die gemeinsame Christianisierung des Laingo und des anliegenden Teiles von Ostfriesland. Der Laingo wurde nicht in den Bezirk des Osnabrücker Missionssprengels der Zelle Karls d. Gr. in Meppen einbezogen, sondern dem friesischen Bekehrer St. Liudger zugleich mit dessen friesischem Bezirke übergeben, der in dem bei diesem Anlasse zuerst genannten Aschendorf, dem Hauptorte des kleinen Gaues, eine „Taufkirche“ erbaute. Taufkirchen waren damals solche, in denen die hl. Taufe und die kirchliche Trauung in feierlicher Form vollzogen werden durfte, während in den übrigen Kirchen beide Sakramente, wenn sie überhaupt in den Kirchen gespendet wurden, der feierlichen Form entbehrten. In jedem Gau war ursprünglich nur eine Taufkirche.
(Im Agredingo scheint dies die in der Mitte des Gaues belegene Kirche in Lathen gewesen zu sein, da sie, wie es sehr oft der Fall bei Taufkirchen zu sein pflegte, dem hl. Johannes dem Täufer geweiht war. Als die Abtei Corvey später eine neue Kirche bauen ließ, weihte sie diese ihrem besonderen Heiligen St. Vitus und der hl. Johannes wurde Mitpatron, wie noch heutzutage.)
Die Begründung dieser Taufkirche ist ein klarer Beweis dafür, daß der Laingo von dem Agredingo kirchenrechtlich getrennt und organisatorisch unabhängig war. Deshalb wurde auch diese Kirche mit ihren Filialen Heede und Rhede bei der kanonischen Zirkumskription zu Anfang des neunten Jahrhunderts nicht zum Bistum Osnabrück, sondern zu Münster geschlagen, bis sie unter Ludwig dem Deutschen mit ihren Filialen 855 ebenfalls an Corvey „verschenkt“ wurde. Dies Vorgehen war offenbar unkanonisch, da auch nach dem fränkischen Kirchenrechte die „Verschenkung“ einer Taufkirche nicht gestattet war (Vergl. Meine Schrift „Zur ältesten Kirchengeschichte des Emslandes“ Meppen 1930, S. 39). Nunmehr kam auch die Kirche in Aschendorf vom Bistum Münster an das Bistum Osnabrück. Daß Münster Einspruch erhoben hat, ist nicht überliefert; die damaligen Zeitwirren (Normanneneinfälle usw.) dürfen einen solchen auch wohl unwirksam gemacht haben.
Die karolingische Grafengewalt ging mit dem Niedergange der Karolinger immer mehr zurück und damit auch die militärische Verbindung des Laingos mit Ostfriesland: dieser wurde wieder ein integrierender Teil des Altsachsengebietes nach jeder Beziehung und teilte dessen fernere Geschicke; aber noch Jahrhunderte lang finden wir Anzeichen dafür, daß das Aschendorfer Land den alten Zusammenhang nicht ganz vergessen hatte.
II.
Karl d. Gr. war nach Ausweis der Geschichte nicht bloß der gewaltige Kriegsmann, sondern mindestens ebenso bedeutend oder vielleicht noch größer als Staatsmann und Regent. Das bewies er ganz besonders gegenüber dem Volksstamm, zu dessen Bezwingung er mit einzelnen Ruhepausen seine ganze Militärmacht und sein ganzes Feldherrngeschick dreißig Jahre eingesetzt hatte, bis das Ziel erreicht war: den Sachsen.
Als endlich im Sachsenlande Ruhe eingekehrt und eine neue Erhebung ausgeschlossen war, legte er nicht die harte Schwertscheide auf den Nacken des gebändigten, noch zum größten Teile heidnischen Volkes, indem er es in brutaler Weise politisch entrechtete. Im Gegenteil: er beließ ihm die viele Jahrhunderte alte Selbstregierungsform und seine alte Gauverfassung, so daß äußerlich von einer neuen Regierungsmethode kaum etwas zutagetrat und die Gemüter der breiten Schichten kaum den Verlust wesentlicher Teile der alten Selbstbestimmung merkten, noch viel weniger am eigenen Leibe schmerzlich empfanden, daß tatsächlich von dem alten sächsischen Volksrecht nur noch die äußere Schale unverletzt geblieben, nachdem sie ihres wesentlichen alten Inhalts entleert war.
Das tritt am klarsten auf dem militärischen Gebiete, der Grundlage der sächsischen Volksmacht, in die Erscheinung. Ueber Krieg und Frieden bestimmte nach dem ungeschriebenen Sachsenrechte und Brauche in jedem Einzelfalle und in jedem Einzelgau die Mehrheit der Volksversammlung .Karl hob dies Herkommen auf (was ihm nicht verübelt werden konnte, da es mit dem Bestande seines Reiches nicht im Einklange stand) und bestellte für einen oder mehrere Gaue besondere beamtete Grafen von zuverlässiger Gesinnung für die ständige Aufrechthaltung der militärischen Bereitschaft und – was noch das Wichtigste war – für das rechtzeitige Aufkommen der neuen, wenn auch nicht gerade sehr hohen Abgaben für militärische Zwecke.
Aus naheliegenden Gründen wurden in diese Grafenstellen wenigstens in der ersten Zeit fast ausnahmslos Nichtsachsen und Nichtfriesen befördert, die dann bei dem früh in sich verfallenden Reiche Karls es verstanden, ihre Stellen in der Familie erblich zu machen und so im Sachsenlande einen neuen Auslandadel zu begründen, der sich nach den vom Könige erhaltenen ursprünglichen Amtswohnsitzen nannte, oft aber auch nach anderen aus eigenen Mitteln erworbenen. Für den friesischen Emsgau und den Laingo scheint das letztere der Fall gewesen zu sein, indem das späterhin in der emsländischen Geschichte eine bedeutende Rolle spielende Geschlecht der Ravensberger Grafen früh im Besitze dieses Bezirkes erscheint.
Mit dem militärischen Amte der karolingischen Grafen war ein zweites Besteuerungsrecht verbunden, das ebenfalls eine wichtige und bei den eroberten Volksstämmen sehr unbeliebte Obliegenheit darstellte, nämlich die neueingeführte gesetzmäßige, ursprünglich zumeist in landwirtschaftlichen Sachwerten zu leistende direkte Steuer für Kirchenzwecke, und zwar für alle Landbesitzer, ob sie bereits Christen oder noch Heiden waren. Wenn diese Steuer auch nur eine sehr mäßige Höhe hatte, widersprach sie doch dem Freiheitsgefühle sowohl der Sachsen wie der Friesen schon grundsätzlich, aber mußte getragen werden, wenn auch vielfach wohl mit Zähneknirschen, wie F. W. Weber das in „Dreizehnlinden“ so anschaulich geschildert hat.
Das Christentum war nunmehr amtlich im ganzen karolingischen Reiche Staatsreligion und Karl d. Gr. eifrig auf dessen allgemeine Einführung bedacht, wenn auch jeder direkte Zwang bei der Christianisierung ausgeschlossen sein sollte und, soweit wir darüber unterrichtet sind, auch ausgeschlossen blieb.
Nachdem bisher die Christianisierung des Sachsenlandes eine sporadische gewesen war, d. h. eine solche einzelner seeleneifriger Missionare und Missionsanstalten, hatte Karl d. Gr. schon seit Beginn der Sachsenkriege den Plan der systematischen Bekehrung der sächsisch=friesischen Länder gefaßt, der sich aber in seiner Ausführung erheblich verzögerte, offenbar deshalb, weil er nicht im entferntesten mit der langen Kriegsdauer gerechnet hatte. Schon zu Ende der 70er Jahre war von ihm ein Plan der Gründung einer Reihe von Bistümern in dem Heidenlande entworfen worden, der aber zunächst nur die Einrichtung des Missionsbistums Osnabrück zur Folge hatte, ohne daß eine genaue Begrenzung eintrat (im Jahre 783). Nach zwei Jahren, 785, folgte die Stiftung einer Reihe weiterer Sprengel, deren Bezirk ebenfalls wohl noch nicht überall im einzelnen endgültig abgegrenzt werden konnte, darunter Paderborn; Münster wurde erst 804 errichtet, nachdem das sächsisch=friesische Gebiet sowohl wie das zu ihm noch jetzt gehörende westfälische Gebiet bereits zum größten Teile christianisiert war.
III:
Den Grafen oblag in der Zeit der Bekehrung die Aufgabe, die Arbeit der Missionare so zu schützen, daß der friedlichen Ausbreitung des Christentums kein Widerstand geleistet wurde, und man darf annehmen, daß deren Tätigkeit nach dieser Richtung für die schnelle Vollendung des Missionswerkes von nicht geringer Bedeutung gewesen ist.
Der hl. Liudger war bekanntlich Friese und Priester des friesischen Bistums Utrecht; seine Aufgabe sah er von jungen Jahren offenbar hauptsächlich darin, das östlich von seiner Geburtsheimat an der Ems gelegene Friesenland dem christlichen Glauben zu gewinnen. Von Hause aus reich begütert wollte er seinen Besitz für diesen Zweck aufopfern und hatte, offenbar mit Wissen und Genehmigung des Osnabrücker Missionsbischofs, des hl. Wiho, auf dem ihm gehörenden Haupthofe Bokeloh bei Meppen eine private Anstalt mit Kirche errichtet, um dort Missionsschüler auszubilden, die sodann für die Bekehrungsarbeit auf dem genannten Friesengebiete Verwendung finden sollten, so bald die Kriegsarbeit Karls d. Gr. die Bahn für das Werk des Evangeliums geebnet habe. Mit Karl war er schon früh bekannt geworden und hatte sicher dessen Zustimmung erhalten, der als hervorragender Menschenkenner sowohl die Begeisterung wie die Fähigkeiten des jungen Priesters kennen und würdigen gelernt hatte.
Sobald nun die Bahn für eine wirksame Missionierung dieses Friesengebietes frei zu sein schien, ging er mit Genehmigung Karls an seine Arbeit und der große Kaiser hatte sich in ihm nicht getäuscht. Obwohl noch eine nicht unbedeutende Störung eintrat, vollendete er die Bekehrungsarbeit in dem kurzen Zeitraume von nur vier Jahren, wie aus seinen feststehenden Lebensdaten hervorgeht. Und gerade diese Friesen erwiesen sich als eifrige Christen, die auf ihren Bekehrer besonders stolz waren, ein deutlicher Beweis dafür ist noch heute das bekannte mittelalterliche „Friesenbild“ an der Nordmauer des Domes in Münster.
Aber nicht nur Eifer und Wagemut zeichneten den hl. Liudger aus, sondern auch eine damit gepaarte kluge Vorsicht. Die letztere müssen wir darin erblicken, daß er für alle Fälle von vornherein auf einen sicheren Stützpunkt Bedacht nahm, falls er genötigt werden sollte, wegen einer ausgebrochenen schweren Christenverfolgung die Stätte seiner apostolischen Tätigkeit zeitweilig zu verlassen. Diesen fand er mit scharfem Blicke in dem das Sachsen= und Friesenland verbindenden Laingo mit Aschendorf als Mittelpunkt. Von dort hatte er sowohl die Möglichkeit, mit seinen Gehilfen in seiner Missionszelle mit Eigenkirche in Bokeloh Zuflucht zu finden, als auch über die stets wasserfreie Burtange in seiner bereits durch den hl. Bonifatius und dessen Schüler christianisierte westfriesische Heimat oder nach Utrecht zu gelangen.
Bollingerfähr auf dem rechten Emsufer gehörte damals und noch erheblich später zu Heede, wie durch Steuerregister erwiesen wird, und nach einer durch alle Jahrhunderte in der Bevölkerung hartnäckig festgehaltenen mündlichen Ueberlieferung ist St. Liudger dort regelmäßig über die Ems gekommen, wenn er zu seinen Familienbesitzungen nach Bokeloh oder im jetzigen östlichen Lingenschen reiste.
Im „Hause Heede“, dem damals das Bollingerfähr gehörte, soll er dann übernachtet und die hl. Messe gelesen haben, schließlich habe er dies Besitztum, aus dem das Dorf Heede erwuchs, selbst angekauft und in seinem Testamente dem münsterschen Domkapitel vermacht, in dessen Besitze es in der Tat in späteren Jahrhunderten urkundlich erscheint, um dann bei Anlage der Schärpenburg auf Heeder Gebiet gegen Emsbüren vom Bischöflichen Stuhle Münster ausgetauscht zu werden.
Die ältesten zur Zeit der Vorgänger Karls d. Gr. im Emslande von Utrecht aus vorgenommenen Missionierungen scheinen sich wesentlich auf den Westen des Agredingo beschränkt und also nach Norden mit der alten Pfarrei Steinbild aufgehört zu haben, so daß also der Laingo am Ende der Sachsenkriege noch nicht systematisch missioniert war. St. Liudgers erste Arbeit war daher, den Laingo für das Christentum zu gewinnen und, da er mit der vollen oberhirtlichen Gewalt von Rom ausgerüstet war, in dessen Mittelpunkte Aschendorf eine Taufkirche zu erbauen, die er dem von ihm besonders verehrten großen Heidenbekehrer und Landsmann, dem am 6. Februar 675 verstorbenen Bischof von Maastricht St. Amandus, weihte.
Da in damaliger Zeit die endgültige Festsetzung der Grenzen („Zirkumskription“) der altsächsischen Bistümer noch nicht erfolgt war, fiel der Laingo mit unter das Missionsgebiet Liudgers und blieb in diesem auch, mit dem friesischen Gebiete, als er 804 mit dem neubegründeten Bistum Münster betraut wurde. Wie er samt der Mutterkirche Aschendorf durch Ludwig den Deutschen unter den Osnabrücker Sprengel kam, ist schon oben ausgeführt. Seitdem verschwindet der Name Laingo ganz aus der Geschichte, ebenso wie der Name Agredingo und beide treten uns als das „Emsland“ im engeren Sinne entgegen bis auf den heutigen Tag.
Was den Ortsnamen „Aschendorf“ betrifft, sei noch kurz bemerkt, daß ein solcher im Sachsenlande mehrfach aus alter Zeit auftritt und wohl sicher im ersten Teile von einem vielfach üblichen Personennamen Asiko oder auch Asigo (als sog. Koseform im Genitiv für den Vollnamen Asculf oder Aseric). Danach bedeutet Aschendorf die „Besitzung des Asiko oder Asigo“. Ein begüterter Sachse wird also der erste Begründer von Aschendorf in altheidnischer Zeit gewesen sein. Der Name „Dorf“ („dorp“) findet sich im altsächsischen Gebiete etwa 900 mal, (auch der Name „Aschendorf“ ist nicht selten) u. bezeichnet eine nicht in Form von langgestreckten Häuserreihen, sondern mehr in Rundung bebaute Ansiedlung, wie Aschendorf sie ja auch aufweist. – Der neuerdings aufgetretene Namenserklärungsversuch aus dem Altfriesischen von „Asegen“ oder „Asigen“, was „Gericht“ bedeutete, so daß Aschendorf der „Gerichtssitz“ hieße, ist für die Forschung nicht ernst zu nehmen: Aschendorf ist niemals friesisch gewesen noch ist dort jemals friesisch gesprochen worden, und die wenigen friesischen Wörter die an der Grenze vorkommen – ich habe noch kein Dutzend auffinden können – beziehen sich ausschließlich auf land= oder hauswirtschaftliche Geräte.
Das uralte „Asikinthorpe“ ist bei seiner Christianisierung durch den hl. Liudger ruhmvoll in die Geschichte eingetreten, hat ihr stets Ehre gemacht und wird sicher mit seiner Kraft und Zähigkeit dafür Gewähr leisten, daß es bis in die fernsten Zeiten sich selbst, seinem alten Laingo und dem ganzen Emslande Ehre macht!
Quelle: Mein Emsland 8. Jahrgang 1932 Beilage zur Ems-Zeitung
Druck und Verlag; Buchdruckerei der Ems-Zeitung L. Rosell, Papenburg