Von Hermann Abels.
Im Februar 1897 starb zu Leobschütz in Schlesien das Ehrenmitglied unsers Vereins, der ehemalige Bibliothekar des deutschen Reichstages Franz August Potthast, geboren zu Höxter am 18. August 1824 als Sohn altangesessener Bürgersleute. Mit zwölf Jahren bezog er das Gymnasium zu Paderborn, wo er im Junfermannschen Hause die liebevollste Aufnahme fand. Im Herbste 1844 bestand er hier die Abiturientenprüfung und besuchte die Akademie Münster, um Theologie und Philologie zu studieren. Nach drei Semestern kam bei ihm das Bewusstsein zum Durchbruch, dass Beruf und Neigung ihn der deutschen Geschichte und der Altertumskunde zuwiesen, zu deren Studium er sich nach Berlin begab, wo er bis Ostern 1850 bei der philosophischen Fakultät immatrikuliert war.
Von den damaligen Größen seines Faches machten auf ihn den meisten Eindruck Jakob Grimm, Lachmann, Boeckh, Raumer, Ritter, Maßmann und Panofka, dagegen konnte Rankes Vortragsweise ihn nicht anziehen. Der philologischen Staatsprüfung unterzog er sich nicht, da die Gymnasiallehrer-Laufbahn ihm nicht zusagte; am liebsten hätte er sich als Privatdozent für Geschichte habilitiert, jedoch konnte er aus materiellen Erwägungen nicht daran denken. Nach Ableistung seines Militärjahres erhielt er durch Zufall Kenntnis von dem Preisausschreiben der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, die auf Grund der Wedekind-Stiftung zum ersten Male mehrere Preise, darunter einen solchen für die Bearbeitung der Chronik des Henricus de Hervordia, ausgesetzt hatte. Sofort gab er sich an die Arbeit und erhielt am 14. März 1856 den Preis im Betrage von 1.000 Thalern in Gold. Im selben Jahre errang er sich den philosophischen Doktorgrad, lieferte einige Übersetzungen mittelalterlicher historischer Schriften und nahm zeitweilig die Stelle eines Erziehers der ältesten Prinzen des Herzogs von Ratibor an. Im Herbst 1859 konnte er seinen inzwischen bedeutend ergänzten Heinrich von Herford in Göttingen im Drucke erscheinen lassen: Sodann bot ihm der Oberbibliothekar der Berliner königlichen Bibliothek, Perß, an dieser eine Stellung an, die er um so lieber annahm, als ihm das Amt eines Bibliothekars schon länger als Ideal vorgeschwebt hatte und eine feste Stellung ihm die Möglichkeit bot, sich einen eigenen Herd zu gründen. Sobald er sein neues Amt angetreten hatte, gab er sich sofort an ein Riesenwerk, an das sich, so wünschenswert es allen Forschern erschien, noch niemand gewagt hatte: ein Repertorium über alle erzählenden Geschichtsquellen des Mittelalters, wie sie in den verschiedensten Drucken und Abhandlungen zerstreut waren. Mit einem ans Fabelhafte grenzenden Fleiße förderte er diese Arbeit, und bereits 1862 lag seine „Bibliotheca historica medii aevi“ im Manuskript vollendet vor. Mit dem im Dezember 1867 erschienenen Supplement und seinen verschiedenen Beigaben (Verzeichnis der Kalenderheiligen, der deutschen Bischöfe, Festtagsbezeichnungen) ist dies Werk noch heute nicht bloß das grundlegende, sondern auch in seiner zweiten Auflage das beste auf diesem Gebiete. Auf Grund eines Preisausschreibens der Berliner Akademie der Wissenschaften gab sich Potthast sogleich nach Abschluss des Supplementes an eine Fortsetzung der bis 1198 reichenden Jafféschen Bearbeitung der Papsturkunden; nach fünf Jahren, am 6. Juli 1871, erkannte die Akademie ihm den Preis von 200 Dukaten zu, der für das 2.600 verzeichnete Urkunden enthaltende großartige Werk „Regesta Pontificum Romanorum inde ab a. p. Chr. n. MCXCVIII ad a. MCCCIV“ ein wohlverdienter und ehrenvoller war. Durch die selbstlose Unterstützung der v. Decker´schen Officin, die ohne Rücksicht auf finanzielle Opfer den Druck übernahm, konnten die Regesten 1874 und 1875 in zwei Bänden von insgesamt 2.158 Seiten erscheinen. –
Im Jahre 1874 erging an Potthast der Ruf, die neugegründete Bibliothekarstelle des Deutschen Reichstags zu übernehmen. Er folgte gern und hat nach ungefähr zwanzigjähriger Verwaltung diese Bibliothek aus unbedeutenden Anfängen auf rund 80.000 Bände gebracht, welche in musterhaft angelegtem und von Potthast Hand kalligraphisch geschriebenen Katalogen verzeichnet stehen. Er gab zwei gedruckte Kataloge der Reichstagsbibliothek heraus, den ersten 1877 mit 299, den zweiten 1882 mit 1.432 Seiten. Diese Zahlen reden deutlich genug vom Anwachsen der Büchersammlung und von der Arbeit, welche Potthast ohne jede Hilfskraft bewältigte. Daneben war er fortgesetzt tätig, um die längst gewünschte Neuauflage seiner „Bibliotheca“ entsprechend erweitert fertig zu stellen, aber es gelang ihm erst mit voller Kraft daran zu gehen, als er im Jahre 1894 in den Ruhestand getreten und nach Leobschütz, der Heimat seiner Gattin, übergesiedelt war. Die zweite Auflage erschien 1896 in zwei Bänden von CXLVIII und 1.749 Seiten; sie geht bis 1500 und enthält mehr als das Doppelte der ersten Auflage. In den letzten Lebensjahren war Potthasts bisher eisenfeste Gesundheit schwankend geworden, aber er erlahmte nicht in seiner Schaffenskraft und konnte am Ende seines arbeitsvollen Lebens auf eine Reihe von Werken blicken, die ihm in den historischen Hilfswissenschaften für immer einen ehrenvollen Namen sichern. Er nannte sich auf dem Titelblatte seiner Schriften mit Stolz „Westfalus“ und durfte es tun; denn er war ein echter und rechter Sohn unsers Westfalenlandes mit allen Vorzügen und Eigenarten seines Stammes, ebenso groß als Charakter wie als Mann der Wissenschaft. In Zeitungen und Zeitschriften sind dem Verewigten verschiedene Nachrufe, Nekrologe und Abhandlungen gewidmet worden, von denen die Skizze in Nr. 22 und 23 der Wissenschaftlichen Beilage zur Berliner „Germania“, Jahrgang 1897/98 von einem ungenannten Verfasser, der aber Potthast zweifellos im Leben nahe gestanden hat, das Eingehendste und Gediegenste sein dürfte.
H. Abels.
Quelle: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde.
Sechsundfünfzigster Band. Münster, 1898.