Von Hermann Abels.
Nach der freiwilligen und zwangsweisen Bekehrung des Sachsenlandes zum Christentum verblieben den Bewohnern zunächst noch jahrhundertelang bei der Taufe die hergebrachten aus der Heidenzeit stammenden klangvollen und in ihrem Sinne dem Volke verständlichen Namen und es wurde der Schöpfung neuer kein Hindernis entgegengesetzt. Wenn wir die alten westfälischen Urkunden durchstöbern, so treten uns bis etwa 1200 fast lauter altsächsisch-westfälische Namen entgegen; erst von da an mehren sich die Benennungen nach christlichen, außerdeutschen Heiligen, und dabei fällt es auf, daß solche zuerst bei Männern und etwa ein Jahrhundert später bei Frauen allgemeiner zu werden anfangen.
Selbstverständlich wurden von Anfang der christlichen Zeit an auch im Sachsenlande die Kirchen ausschließlich auf den Titel oder das Patronat der göttlichen Personen oder der Heiligen geweiht, aber daß letzteres auf die Namengebung im Volke einen merklichen Einfluß geübt hat, ist ebensowenig nachweisbar, als daß die oftmals mit großartigem Festgepränge veranstalteten Reliquien-Übertragungen (Translationen) dem lebenden Geschlechte den Anstoß gaben, das kommende nach den betreffenden Heiligen zu benennen. Man wird dabei nicht übersehen dürfen, daß in jener Zeit, die für die große Menge keine Familiennamen kannte, der Taufname etwas mehr Einzelpersönliches bedeutete, als späterhin bei der Verbindung von Tauf- und Familiennamen, die erst im 15. bis 16. Jahrhunderte, vielfach noch weit später, einsetzte.
Nachdem aber außerdeutsche, fremdsprachliche Heiligennamen in Gebrauch gekommen waren, blieben sie noch lange Zeit in der großen Minderzahl, und bis auf unsere Tage hat sich noch eine ganze Reihe altsächsischer Vornamen erhalten, die durch Anlehnung an ähnlich klingende Heiligennamen der Martyrologien eine christliche Umstempelung erfahren haben. Soweit dies nicht der Fall ist, greift man stellenweise zu dem Hilfsmittel, neben ihnen einen christlichen Heiligennamen bei der hl. Taufe anzufügen.
Bei der Prüfung des Beginnes der Anwendung christlicher und außerdeutscher Namen als Taufnamen fällt die Erscheinung auf, daß mit Vorliebe solche gewählt wurden, die aus der ältesten Zeit der Christenheit herrühren. Um nur einige Beispiele zu geben, begegnet uns seit 1200 zunächst häufiger Johannes (der Täufer), bis in die Jetztzeit auch in Westfalen in seinen verschiedenen Formen wohl noch der beliebteste Männer-Vorname („schlechtweg Jan“). Dann folgt Jakobus („Koep“) und in einigem Abstande Stephanus („Steffen“), Bartholomäus („Bartel“, „Tole“, „Mewes“), Petrus („Peter“), Andreas („Drewes“, „Drees“). Auch besonders beliebte Heilige werden nicht vergessen, namentlich St. Nikolaus (Clawes) kommt früh und oft vor.
Unter den Frauennamen war von alters her die hl. Thekla, Schülerin des hl. Petrus und Patronin der Sterbenden sehr beliebt als „Talke“ usw., sodann die hl. Agnes, deren Name sich auch im Meßkanon findet (gemartert 251), als „Nese“, die hl. Lucia (um 300), Patronin gegen Augenleiden, im Kanon und, wie ebenfalls die hl. Agnes, in der Allerheiligenlitanei erwähnt („Lukke“, „Lücke“); die hl. Margaretha (um 275 oder 305), bereits im siebten Jahrhundert in Litaneien der englischen Kirche genannt, Patronin des Nährstandes („Grete“); St. Helena, Kaiserin, im ersten Viertel des vierten Jahrhunderts, als Kreuzerfinderin besonders seit den Kreuzzügen verehrt („Leneke“), St. Katharina, Patronin des Lehrstandes, Martyrin 306, eine der 14 Nothelfer, usw. – Es ist hierbei die Erscheinung zu beachten, daß die fremdsprachlichen Heiligennamen fast ausnahmslos derart umgemodelt erscheinen, daß sie der heimischen Zunge und dem heimischen Ohre zusagend werden. Als einer der beliebtesten weiblichen Namen erscheint seit Mitte des 14. Jahrhunderts Elisabeth („Else“, „Elseke“, „Elzabe“, zu Ende des 15. Jahrhunderts auch als „Elsebeen“, vermutlich Doppelname aus Elsa Bernarda, da Bene = Bernard). Es ist unzweifelhaft nicht die biblische oder die portugiesische Elisabeth gemeint, sondern die Landgräfin von Thüringen, gestorben 1231, kanonisiert 1235.
Auffällig ist, daß drei jetzt zu den häufigsten zählende Namen in Westfalen – und auch in verschiedenen anderen deutschen Gegenden – sich erst spät finden. Dazu gehört vor allem die Gottesmutter Maria. Am nächsten liegt wohl die Annahme, daß, wie der Heilandsname Jesus von den Christen nicht getragen wird, auch eine religiöse Ehrfurcht damals verbot, den Namen Maria als Taufnamen zu verwenden. Auch Anna tritt uns lange Zeit noch nicht entgegen, und das dürfte seinen Grund darin haben, daß im Abendlande ihre Verehrung erst im Jahre 1378 öffentlich eingeführt und vom päpstlichen Stuhle genehmigt wurde. In Deutschland erwirkte Kurfürst Friedrich der Weise von Papst Alexander VI. 1494 ein Breve, um in seinem Lande der Heiligen einen den höchsten Kirchenfesten gleichstehenden Tag feiern zu dürfen.
Ähnliches ist mit dem hl. Joseph der Fall. Obschon die Griechen im neunten Jahrhundert, wie die Abendländer, dessen Gedächtnis begingen, und zwar am Sonntag vor Weihnachten und am Sonntag in der Weihnachtsoktav, drang dies Fest doch im Mittelalter nicht eigentlich in das Volk hinein. Später machten sich um die Verbreitung der Andacht zum hl. Joseph besonders die hl. Theresia und der hl. Franz von Sales verdient. Papst Benedikt XIII. verordnete am 19. Dezember 1729, daß der Name des hl. Joseph in die Allerheiligenlitanei eingefügt werde. Nachdem Papst Gregor XV. 1621 das Fest am 19. März zum gebotenen Feiertag erhoben hatte, verlieh ihm Pius IX. durch Dekret vom 8. Dezember 1870 den Glanz eines Festes I. Klasse und verkündigte den Nährvater Christi zum Schutzpatron der ganzen katholischen Kirche. (Vgl. Detzel, Christl. Ikonographie, Bd. II, Freiburg i. B. 1896.)
Mit dem im späteren Mittelalter eintretenden allmählichen Schwinden der alten heimischen Vornamen und deren Ersetzung durch die in den kirchlichen Martyrologien und Kalendarien befindlichen ging auch die frühere außerordentlich große Reichhaltigkeit an solchen dahin und entwickelte sich mehr und mehr die Erscheinung, daß diese sich auf einen kleinen Kreis allgemein gebräuchlicher Vornamen beschränken und in vielen Gegenden nach ungeschriebenem festen Gesetze in den Familien von Geschlecht zu Geschlecht forterben. Erst die allerneueste Zeit zeigt das Bestreben, durch Wiederaufnahme älterer klangvoller, vielfach heimischer Benennungen mehr Mannigfaltigkeit herzustellen. Es wäre auch eine schöne Aufgabe der Heimatkunde, diese wiedererwachende Neigung durch Schaffung eines westfälischen Vornamenbüchleins zu unterstützen, in dem die empfehlenswertesten und einwandfreien Vornamen der Vorzeit mit kurzen Erläuterungen verzeichnet ständen.
Quelle: Heimatblätter der Roten Erde
Zeitschrift des Westfälischen Heimatbundes
2. Jahrgang 1920/21
Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster i. W.