Aus dem Nachlasse des Professors Wenker bearbeitet von Studienrat Geppert.
Im ganzen Emslande ist die 1.000jährige Linde berühmt und bekannt als ein Baumriese von 13einhalb Meter Umfang; 8 Männer sind nötig, ihren Riesenleib zu umspannen. Dieser reckt sich etwa 4 Meter in die Höhe, und dann gehen 16 Äste, jeder baumdick, nach allen Seiten auseinander und strecken ihr dichtes Gezweig zum Himmelszelt empor.
Wenn sie im Sommer ihr schönstes Kleid angelegt hat, erhält sie auch ihren Weihetag. Ein Singen und Klingen und Beten vernimmt sie aus der Richtung der alten Burgkapelle derer von und zu Heede (jetzt Pfarrkirche), und wie sie näher und näher kommen, da wird auch ihr steinalter Leib wieder lebendig, und es rauscht in ihren Zweigen wie in ihrer Jugendzeit, und sie stimmt mit ein in das Tantum ergo sacramentum veneremur cernui. Nicht lange dauert es, dann sieht sie einen Priester emporsteigen, er stellt sich auf ihren mächtigen Schoß und verkündet den Hunderten, die sich zu ihren Füßen lagern, die uralte Wahrheit von der Liebe des menschgewordenen Gottessohnes, die im höchsten Sakramente verborgen liegt. Alsdann kommt ihr allmählich zum Bewusstsein, dass sie solche Worte bereits vor Jahrhunderten gehört hat, damals als auch bei ihr die 2. Station am Fronleichnamstage war, aber nicht ihretwegen wie jetzt, sondern ihrer adeligen Herrschaft wegen, deren Burghof sie zierte als Burglinde.
Nun treten viele andere Bilder aus der Vorzeit vor ihr müdes Auge:
Sie sieht den Ritter Hans von Scherpenborg, den Drosten des Emslandes, ihren Burgherrn, von angestrengtem Ritte nach Bellingwolde heimkehren, wo er als Vertreter des Bischofs von Münster einen Streit geschlichtet hatte. Freudig begrüßen ihn der alte Joachim, der Vater des Drosten, und der kleine Hans v. Scherpenborg, der Enkel, und dann nahmen die drei unter ihrem Schatten Platz und des Erzählens ist kein Ende. Das war anno 1521. Nicht lange war seines Bleibens, dann ritt er wieder fort, diesmal nach seinem Amtssitze Nienhus bei Aschendorf, weil er bei der Neubelehnung der Papenburg als Zeuge antreten musste. Das war auch 1521.
Aber noch weiter zurück konnte die alte Burglinde denken: „Einst kam ein Bote über die Zugbrücke geritten, der allen Rittern verkündete, dass es östlich der Elbe in Lauenburg und Mecklenburg, in Pommern und in Brandenburg von Heiden wimmelte, deren Bekehrung ebenso wertvoll sei wie die der Türken in Palästina. Er entbiete allen nachgeborenen Rittersöhnen des westlichen Deutschland Gruß und Wunsch, mit ihm nach Ostland zu reiten, und der hl. Vater in Rom habe allen Ostlandfahrern dieselben Ablässe in Gnaden erteilt wie den Kreuzfahrern. Da sah ich ein Gewimmel auf dem Burghofe, ein Packen und Zubereiten, und kaum war der Bote fort über die Emsfähre nach Burg Ahlen und zu den Herren von Osterwedde und von Campe, da ritt auch schon ein Scherpenborg hinweg zum Slavenland, und frohgemut sang er das Liedel:
Naer Oostland willen wy riden
Naer Oostland willen wy mee (mit)
All over die groene heiden
Frisch over die heiden
Daer isser een betere stee (Stelle).
Später hörte ich aus Briefen, die auf der Bank unter meinem Gezweig mit tränenumflorten Augen verlesen wurden: Die Vettern in Sachsen-Lauenburg seien gänzlich aus der Art geschlagen. Ihre Väter hätten u. a. am Dome zu Hamburg eine Vikarie gestiftet und zu Niendorf a. d. Stecknitz, ihrem Rittersitze, eine Kapelle gebaut. Aber jetzt hätten sie sich in Linau, mittwegs zwischen Hamburg und Lübeck, ein Erzraubschloss aufgebaut und es angefüllet mit Straßenräubern, die keinem Kaufmann was ließen, und des Raubens im Lande sei kein Steuern.
Da habe 1345 der Herzog von Sachsen den Scherpenborgs die Burg Linau genommen und gebrochen und sie des Landes verwiesen nach Neuhaus a. d. Oste. Aber auch dort hätten sie nach ihrer Gewohnheit weitergeraubt, und deshalb seien sie dort ebenfalls hinausgetrieben. Und wirklich, eines Tages kam ein landflüchtiger Scherpenborg über die Gräfte geschlichen – 2 Zugbrücken führten über den Doppelgraben, du kannst ihn noch erkennen, mein lieber Wandersmann – und suchte heimatlos Obdach in der alten Heimat. Da schämte ich mich und ließ die Blätter hängen, und ich ward erst wieder froh, als bis ich vernahm, dass das wilde Blut der Scherpenborgs ruhiger geworden war.
Die Beziehungen zwischen dem Emslande und Sachsen-Lauenburg wurden wieder aufgenommen, Herzog August von Sachsen verwendete sich für sie, und ein Hans Volhard von Scherpenborg begab sich wieder nach Lauenburg, wo ihm die Güter zurückgegeben wurden. Das war so etwa 1580, genau weiß ich´s nicht mehr, es ist schon zu lange her. Doch mit Stolz habe ich vernommen, dass sich die Scherpenborgs jetzt gut machten; 34 Jahre lang, von 1585 bis 1619, hat Hans Vollrat v. Scherpenborg als hervorragendes Mitglied der Ritterschaft für das Herzogtum Lauenburg segensreich gewirkt, so dass auch das Wappen dieses Geschlechtes in dem Sitzungssaale des Lauenburgischen Landeshauses einen ehrenvollen Platz gefunden hat, wie mir kürzlich ein Wanderer aus Ratzeburg in Lauenburg erzählte. Das war eine erfreuliche Botschaft aus der Fremde!
Was ich aber jetzt von unserem Stammhause, der Scherpenborg im Emslande, berichten muss, ist entsetzlich…“
Die alte Linde hielt inne, Wehmut überkam sie. Schließlich fuhr sie fort: „Ein großes Morden und Sterben kam 30 Jahre lang, wie über Deutschland so auch über unser Emsland.
„Gott mit uns“ riefen die Evangelischen und schlugen ihren Nächsten tot. „Jesus Maria“ schrien die Katholischen und taten es ebenso, und als die Kriegs- und Brandfackel ausgelöscht war, da sank ein Jahr nach Friedensschluss, also 1649, mein guter Edelherr Volrat Heidenreich von Scherpenborg vor Gram ob der geschauten Gräuel, denn wir wohnen hier am uralten Heerwege Münster – Ostfriesland und sahen den wüsten Mansfeld und den wilden Königsmark und Tillys raubende Kroaten aus nächster Nähe, ins Grab. Anno 1653 verschied sein Bruder Engelbert ohne männliche Erben, und Hans, der dritte Bruder, war fern in Lauenburg. Damals starb der alte Stamm derer von Scherpenborg im Emslande aus!“
„Zum Glück war eine Cousine am Leben mit Namen Anna Alma. Diese heiratete den Obristwachtmeister Friedrich von Pinninck, einen Holländer von Geburt, den der Kriegsdienst hierher verschlagen hatte. Er nannte sich Pinninck von Scherpenborg, um den alten Namen zu bewahren. Das Glück schien wieder bei uns einzuziehen, und meine Zweige grünten und blühten wie nie zuvor, bis ich eines Tages voller Entsetzen erwachte.
Kampfgetümmel um mich her, es krachte und zischte durch meine Äste, aus mehreren Wunden floss mein Lindenblut, plötzlich war ich in Wolken von Rauch gehüllt, ich hörte ein Prasseln und Stürzen, und wie sich endlich die Rauchschwaden verzogen hatten – da, da lag das Schloss meiner Herrschaft, die alte, liebe Scherpenborg in Schutt und Asche. Dazu das Vieh, das Korn, alle Briefschaften, alles, ach alles war vernichtet. Man schrieb im Jahre des Heils 1673 zur Zeit des zweiten holländischen Krieges Christoph Bernhard von Galen. Du fragst mich nach dem Täter? Ich habe nie erfahren, ob die Holländer oder gar die bischöflichen Truppen die Schuld an dem Brande trugen.
Ich selbst habe mich schließlich von dem Unglücke erholt, aber meine Herrschaft nimmermehr! Zwar gab unser Nachbar Wilhelm Freiherr v. Galen auf Haus Heede bei der Kirche Unterstützungsgelder, aber sie mussten zur Tilgung der Schulden dienen, die der 30jährige Krieg verursacht hatte; zum Wiederaufbau des Herrenhauses reichten sie nicht aus.
Da zogen die meisten Mitglieder der Familie v. Pinninck-Scherpenborg fort von hier nach dem gastlichen Holland und Belgien. Einige behielten den adeligen Namen und wurden Offiziere, andere ergriffen bürgerliche Berufe, legten den Adel des Namens ab und nannten sich Scherpenborg in Erinnerung an den alten Familiensitz im Emslande. Die letzte v. Pinninck starb 1816 in Heede, während die Erben noch heutzutage in Tongern in Belgien leben, in deren Namen die Verwaltung der zahlreichen Heeder Pachtgrundstücke erfolgt. Seitdem 1873 die letzten Heuerhäuser und die Zehntscheune (die Abgabenscheuer) niedergelegt sind, stehe ich einsam hier am Platze. Nur Schafe und Lämmlein weiden friedlich zu meinen Füßen und trösten mich in meiner Verlassenheit; die Tiere sind doch besser als die bösen Menschen.“
Als ich die uralte Linde, die mir eben noch viel Wissenswertes klar und vernünftig erzählt hatte, so reden hörte, meinte ich erst, sie sei plötzlich in die Kindheit gekommen. Beim Fortgehen aber fand ich doch ein Körnchen Weisheit in ihren Abschiedsworten.
Quelle:
Emsländische Burgenfahrt.
Ein Wanderbüchlein zur Pflege der Heimatkunde in Stadt und Land.
Aus dem Nachlasse des Professors Wenker
bearbeitet von
Studienrat Geppert.
Meppen (Ems) 1923.
Verlegt bei Heinr. Wegener.