Von Hermann Abels.
Ein in geschichtlicher Beziehung eigenartiger Landstrich ist Westerwolde, das sich westlich an den Kreis Aschendorf von dessen Südgrenze bis ausschließlich etwa Brual gegenüber auf holländischem Gebiete anschließt und dort die Kirchengemeinden Terapel (ehemaliges exemtes Kreuzherrenkloster), Zellingen, Onstwedde, Vlagtwedde, Wedde und Vriescheloo umfasst. Das Gebiet wird durchflossen östlich von der Ruiten-Aa und westlich von der Mussel-Aa; diese Bäche vereinigen sich unterhalb Vlagtwedde bei Wessinghusen zur Westerwoldschen Aa *).
Der Name Westerwolde sagt schon, dass er nicht von holländischer Seite stammen kann, dann müsste er „Osterwalde“ lauten. Er hat nur Sinn, wenn er der Landschaft von Osten her, also vom Emslande aus, gegeben ist, und das wird durch die Geschichte bestätigt. Westerwolde muss in frühgeschichtlicher Zeit von einem in das Emsland eingewanderten sächsisch-deutschen, nicht friesischen oder niederfränkischen Volksstamme in Besitz genommen sein.
Vom Lande Westerwolde vernehmen wir erst, nachdem es nebst dem Emslande in Corveyschem Besitze war, indem um 1150 die ebengenannten Pfarreien unter denjenigen aufgeführt werden, über die das Kloster Corvey das Patronat besaß. Daraus ist aber nicht ohne weiteres der Schluss zu ziehen, dass Corvey die Gegend auch dem Christentum gewonnen, sondern höchstens, dass es die geregelte Pfarreinteilung in diesem vielleicht etwas nach dem eigentlichen Emslande systematisch missionierten Bezirk durchgeführt hat. Jedenfalls muss Westerwolde von Anfang der Bekehrung an zur Osnabrücker Diözese gehört haben; die Bistumsgrenzen richteten sich nämlich im Niedersachsenlande nach dem Gebiete, das dem Bekehrer mit Gutheißung Roms aus der Hand des Kaisers anvertraut war, um es nicht nur zu missionieren, sondern auch zu organisieren **).
Deshalb unterstand ja auch z. B. der vom heiligen Ludgerus dem christlichen Glauben gewonnene sächsische Ems- oder Laingau mit der Taufkirche Aschendorf und den Kapellen in Rhede und Heede anfänglich nicht dem Bistum Osnabrück, sondern gehörte kirchlich zu den fünf Gauen, die den friesischen Teil der Diözese des hl. Ludgerus bildeten. Für Westerwolde ist wegen seiner kirchlichen Zugehörigkeit zu Osnabrück als sicher anzunehmen, dass dessen Bekehrung von Missionaren geschah, die im Auftrage des hl. Wiho (Wido) das Evangelium verkündeten. Die Einzelheiten müssen wir freilich dahingestellt sein lassen, weil uns bis dahin und wohl für immer darüber die Quellen verschlossen sind.
Ob Westerwolde zum Agredingo gehört hat, ist ebenfalls nicht zu erweisen, da uns für diese Gegend zwar Gaunamen, aber nicht die genauen Grenzen überliefert sind. Vollständig unsicher sind diese im großen Grenz- oder Burtanger Moor, wo sich das deutsche Gebiet noch vor einigen Jahrhunderten erheblich weiter nach Westen erstreckte und eine endgültige, aber für die deutsche Seite wenig günstige Festlegung noch keine hundert Jahre alt ist.
Wie Corvey in den Besitz Westerwoldes gekommen ist, lässt sich ebenfalls nicht feststellen; wenn Kindlinger, Geschichte der d. Hörigkeit S. 71, von einer „einfachen Tradition“ (Schenkung) spricht, so kann das nichts weiter als eine, wenn auch naheliegende Vermutung sein. In den Urkunden und Registern der Abtei findet sich darüber keinerlei Vermerk. Ein besonders sicherer Besitz muss es wohl nicht gewesen sein; wenigstens erkannten die Gemeinden der genannten fünf Kirchspiele zu Anfang des 14. Jahrhunderts keinerlei Hörigkeit an. Im Jahre 1316 begaben sie sich nämlich „freiwillig“ unter den Schutz des kriegerischen münsterischen Bischofs Ludwig II. und beurkundeten zu gleicher Zeit, nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre völlige Unabhängigkeit (Kindlinger a. a. O. und Münsterische Beiträge II, Urk. Nr. 53).
Dieser Freiheit tat es nach mittelalterlicher Rechtsauffassung keinen Eintrag, dass sie sich verpflichteten, zur Anerkenntnis des Schutzverhältnisses gegenüber Münster jährlich von jedem Hause, aus dem Rauch aufstieg, also von jedem bewohnten Hause, auf Michaelis ein Huhn in den münsterischen Hof zu Altharen zu liefern, das sog. „Rauchhuhn“. In der Tat wurde durch diese Verpflichtung die persönliche Freiheit und Unabhängigkeit des sie Leistenden nicht beeinträchtigt, wohl aber von der Gesamtheit ein Verhältnis zu Münster eingegangen, das wir jetzt als Anerkennung der Souveränität Münsters bezeichnen würden. Ein Huhn war die kleinste Abgabe an Naturalien, die das frühe Mittelalter kannte und es schloss in sich die Anerkennung der Verpflichtung zur Landfolge, also der unbedingten Unterordnung unter den militärischen und administrativen Oberbefehl Münsters. Aus der Rauchhuhnsteuer wurde denn auch später tatsächlich das Souveränitätsverhältnis abgeleitet und mit ihm das Recht zur Auflegung anderer Abgaben und Leistungen begründet. So folgerte der prachtliebende Bischof von Münster Kurfürst Klemens August, Erbauer von Klemenswerth, auf dieser Grundlage, dass die Bauern des Hümmlings ihm bei seinen großen Prunkjagden ohne Bezahlung Treiberdienste zu leisten hätten.
Es ist nicht überliefert, welche Stellung Corvey zu diesem Vorgehen Westerwoldes nahm; Es scheint aber nicht die Macht gehabt zu haben, etwas Wirksames dagegen zu tun. Fast hundert Jahre später sehen wir auch, dass das Amt Westerwolde unter einem eigenen Häuptling stand, der, nach seinem Namen zu urteilen, friesischen Stammes war und in dessen Familie diese Würde schon damals längere Zeit erblich gewesen sein muss. „Im Jahre 1400“, so schreibt Diepenbrock, offenbar auf Urkunden gestützt, in den historischen Nachrichten zum Meppener „Hand- und Notiz-Calender“ für 1831, S. 24 f, „verspricht Bischof Otto IV. von Münster den Brüdern Heyen und Bohlen Addings, Söhnen Eggen Addings von Westerwolde, sie im Besitze ihrer angestammten Gerechtsame, die Hühnergulden ausgenommen, zu belassen und gegen jeden feindlichen Angriff zu beschützen; die Brüder dagegen machen sich verbindlich, gleich den anderen Eingesessenen des Stiftes den Amtsleuten des Emslandes zu Fuß und zu Ross die Heeresfolge zu leisten und verlangen dafür nach vollbrachtem Kampfe ihren Teil an der Beute.
Die Gebrüder Addings leihen auch dem Bischofe 500 Mark Pfennige. Addings und die Bewohner von Westerwolde bekennen sich 1459 als münsterische Untertanen und Egge Addings räumt dem Bischof von Münster das Haus Wedde als ein offenes ein (zur Verfügung im Kriegsfall), doch so, dass Addings und seine Erben als münsterische Amtleute damit belehnt werden und alle Renten und Einkünfte zum eigenen Besten, ohne Rechenschaft abzulegen, verwenden dürfen; nur die Hühnergulden sollen dem Bischof bleiben. Unter dem nachfolgenden Bischof werden die Addings mit dem Hause Wedde belehnt und ihnen wird erlaubt, das Haus Wedde, welches eben von den Gröningern zerstört war, wieder aufzubauen. Dem Stifte wird auch von Addings gelobt, dass, wenn er ohne Erben stürbe, das Haus Wedde als ein reines Eigentum an den Bischof fallen solle.“
Aus dieser Mitteilung geht deutlich hervor, dass Westerwolde ein eigenes münsterisches Amt (Verwaltungsbezirk) war, aber ein solches mit einem erblichen Amtmann und ohne Einkünfte für das Stift als die dürftige Anerkennungsgebühr des Rauchhuhns, das inzwischen in eine Geldabgabe umgewandelt war. Letzteres wurde in allen münsterischen Ämtern üblich und geschah in der Weise, dass die Amtmänner in den Gemeinden die abgabepflichtigen Häuser zusammenzählten, daraus den Wert der Hühner
zusammenrechneten und den Betrag in einem Posten von der Gemeinde erhoben.
Die Listen bildeten dann die Grundlage für die Aufforderung zur Landfolge, alsbald aber auch für die Ausschreibung anderer neuen Lasten. Die „Hühnergulden“ wurden nach Fertigstellung des Amthauses Nienhus bei Aschendorf nicht mehr in Altharen abgeliefert, sondern beim in Nienhus wohnenden Drosten.
Es ist aus den vorliegenden Nachrichten leicht zu ersehen, dass das Amt Westerwolde von Münster aus nicht als Einnahmequelle, sondern als militärisch wichtiger Besitz gewertet wurde, um sich gegen die Angriffe der Holländer, besonders der Groninger, zu wehren. Das geht auch daraus hervor, dass es Münster noch 1498 gelang, unter der Bedingung der Hühnergulden den benachbarten Ort Bellingwolde mit den Häusern Upham und Utham an das Stift zu ketten. (Diepenbrock a. a. O. S. 25.)
Aber trotz aller dieser Bemühungen gelang es Münster nicht, den wichtigen altsächsischen Besitz gegen Groningen zu behaupten. Den äußeren Anlass zum endgültigen Verluste gab die sozial-konfessionelle Bewegung, an die sich der Wiedertäuferaufstand knüpfte und die bereits seit 1525 die Macht der Bischöfe lähmte. Als der Herzog Karl von Geldern 1530 Groningen besetzt hatte, war seine zweite Tätigkeit, das kaum verteidigte Westerwolde wegzunehmen und zum Eigentum der Stadt Groningen zu erklären. Münster erhob zwar Einspruch beim Reichskammergericht, war aber bei den inneren Wirren in der Hauptstadt nicht imstande, seiner Forderung mit den Waffen Nachdruck zu geben, und so kam Westerwolde an die Generalstaaten; die nächste Folge war der Übergang an den Kalvinismus. Noch einmal hören wir, dass Corvey einen Versuch unternahm, seine von altersher beanspruchten Rechte geltend zu machen. Im Jahre 1571 „belehnte“ es formell nach dem Absterben des Häuptlings Heige von Westerwolde dessen Schwager Jost Lewe „in Behuf seiner Kinder“ mit dem Gebiete (Kindlinger, Hörigkeit S. 71); weitere Folgen hatte das aber nicht.
Westerwolde war, wie wir gesehen haben, ursächsisches, also urdeutsches Land, seine Bewohnerschaft mit der des Emslandes desselben Stammes, derselben Sitte, Sprache und Religion. Seit dem vollen Übergange an Holland wurde seine Bevölkerung mehr und mehr von holländischen Elementen durchsetzt und gegenwärtig unterscheidet es sich vom übrigen Groninger Lande äußerlich kaum mehr. Den Holländern muss man das Zeugnis geben, dass sie den Bezirk zu hoher Entwicklung gebracht haben, an der wir noch jeden Tag ein Muster sehen. Immerhin sieht sich noch heutigen Tages die emsländische und westerwoldische Bevölkerung in einem gewissen dunklen Gemeinsamkeitsgefühl zu einander hingezogen und insbesondere hat die westerwoldische Volksmundart noch in Wortschatz und grammatischen Eigenarten manche Berührungen mit unserm Plattdeutsch, so dass auch der nicht Holländisch sprechende Emsländer sich mit den biederen einfachen Leuten unschwer verständigt.
*) Ruiten-Aa bedeutet „Wasserlauf durch gerodetes Gefilde“. Die ganze Gegend südlich von Rütenbrock bis nördlich Terapel hieß früher „de Rüten“: „die Rodungen“, soweit sie auf Sandboden liegt. Der Ortsname Rütenbrock ist erst Ende des 18. Jh. bei Anlage der Moorkolonie entstanden. Daraus lässt sich schließen, was auch geologisch bestätigt wird, dass diese Fläche ehedem stark bewaldet war. Linksemsisch besitzen wir nur einen zweiten an eine Rodung erinnernden Ortsnamen: Marienrode, das alte Kloster in Wietmarschen, Niedergrafschaft Bentheim, wo nach erhaltenen Berichten ein sumpfiger Wald war, was auch der Name Wietmarschen besagt: widu = Holzung und Marsch. Im eigentlichen Emslande außerhalb des Hümmlings gab es keine eigentlichen Wälder, deshalb auch keine „Rodungen“ in Flur- und Ortsnamen. Die alten Klöster als Pioniere der Kultur gründeten sich größtenteils auf in Kulturboden umzuschaffenden Waldboden, besonders die der Zisterzienser (Marienrode) und der Kreuzherren (Ter Apel = im Fruchtbaumgebiete“). Vgl. auch mein „Ortsnamen des Emslandes.
Mussel-Aa bezeichnet ein Gewässer, das Miesmuscheln mit sich führte. Das ist nur der Fall, wenn es seinen Lauf durch Sandland nimmt, wie es tatsächlich bei der Mussel-Aa der Fall ist, die durch einen Sandstreifen zwischen Moorgelände fließt (der holl. Musselkanal verlässt nw. von Zandberg das Sandgebiet und wendet sich dem Moore zu). Auch die Ems ist ja reich an (essbaren) Miesmuscheln und war es früher weit mehr, so dass aus den Schalen noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwischen Lehe und Herbrum Kalk gebrannt wurde.
**) Die Angabe in Behnes, Beiträge zur Geschichte und Verfassung des ehemaligen Niederstiftes Münster, Emden 1830, dass Westerwolde von Anfang an zum Bistum Münster gehört habe, ist irrig, da in dem erwähnten Verzeichnis der Corveyer Patronatskirchen um 1150 Onstwedde, Wedde, Zellingen, Vriescheloo ausdrücklich als „in diocesi Osnaburgensi“ bezeichnet werden. (Mepp. Ukdb. Nr. 38), Terapel wird dabei nicht genannt, weil es „exemt“ war, also zu keinem Diözesanverband gehörte und deshalb auch Corvey keine Rechte darauf hatte.
Quelle: Mein Emsland Jahrgang 1928 Beilage zur Ems-Zeitung
Verlag: Buchdruckerei der Ems-Zeitung L. Rosell, Papenburg