Von Hermann Abels, Paderborn
In einer größeren Anzahl Dörfer des Emslandes, namentlich in dessen nördlichem Teile und auf dem Hümmling, war ehedem die Sitte verbreitet, – und ist es vereinzelt vielleicht noch heute – dass zu Neujahr der Freier seiner Verehrten oder auch wohl die Kinder dem Großvater oder der Großmutter ("Böppe") ein Angebinde aus künstlichen Blumen, buntem Flitterkram oder Ähnlichem in einer Art Kranzform darbrachten, das "Tunschere" genannt wurde.1)
Über die Bedeutung dieses Namens ist viel geraten und gestritten worden, ohne dass irgendetwas Sicheres herausgekommen ist. Die Bezeichnung tritt uns zum ersten Male entgegen in einem lateinischen Schreiben des Abtes Theodor von Corvey aus dem Jahre 1348 über die Freiheiten und Güter der Pfarrkirche in Meppen (Diepenbrock, Meppen, Neudruck 1885, S. 124), wo gesagt wird, der Pfarrer in Meppen könne auch die auf den dieser Kirche eigenhörigen Höfen sich findenden „Homines soli vagi“, welche im gewöhnlichen Leben Tamscherigen Lüde oder Tunschare genannt werden, für anderes Gesinde eintauschen, nur müsse der Vorteil der Kirche zugewendet werden.
Das Wort „solivagi“: Alleinstehende ohne festes Heim, ergibt, dass es sich um unverheiratete Leute handelt, die nicht wie die „Liten“ oder „Laten“ an die Scholle gebunden sind, keinen Grundbesitz zur Benutzung haben, aber dennoch in einem Dienstverhältnisse, wenn auch nur auf gewisse Zeit, zum Hofe stehen. Letzteres wird man sich etwa so denken müssen, wie heutzutage das des Knechtes, nur dass dem „Tunschare“ die Stellenveränderung wohl
wesentlich erschwert war. Näheres wissen wir nicht und das Verhältnis scheint im 14. Jahrh. auch nicht mehr völlig klar gewesen zu sein., da eine Entscheidung des Abtes notwendig wurde.
Aus dem Wortlaute des abtlichen Schreibens geht deutlich hervor, dass „Tamscherige“ und „Tunschare“ gleichbedeutend sein soll. Daraus ist ferner zu schließen, dass auch „Tam“ und „Tun“ als gleichbedeutend betrachtet wird und entweder der Abt im fernen Corvey eine von den beiden Bezeichnungen nicht genau kannte oder dass er sich das eine oder andere Mal verschrieben hat, oder drittens, dass in Kindlingers Geschichte der deutschen Hörigkeit, aus der Diepenbrock schöpfte, sich das eine oder andere Mal ein Druckfehler findet. Welche Bezeichnung unzutreffend ist, kann gar keinem Zweifel unterliegen: statt Tamscherige ist Tunscherige zu lesen. Diepenbrock selbst hat das auch offenbar angenommen, indem er mit richtigem kritischen Empfinden auf „Tam“ gar nicht zurückkommt, sondern aus Stüve, Osnabrückische Geschichte (die mir nicht vorliegt), „Tunschare“ schon aus Schlüchtern (Hessen) vom Jahr 1234 nachweist. – Das bringt uns der einfachen Erklärung des rätselhaften Wortes näher, stößt uns vielmehr, wie man zu sagen pflegt, mit der Nase darauf.
Das Wort Tunschere besteht aus zwei Stämmen: Tun – ohne jeden Zweifel = Zaun, und Schere. Der Volksmund denkt, was man ihm nicht übelnehmen kann, an das bekannte Schneide- und Schneiderwerkzeug. Er hat es auch seinem Humor unterworfen, wenigstens wusste vor mehr als sechzig Jahren mein auf dem Gebiete der emsländischen Volkskunde sehr erfahrener Vater uns Kindern am heimischen und anheimelnden torflichen Herdfeuer zu berichten, ein Bauer habe seinen Knecht mit einer Tunschere losgeschickt, bei deren Überreichung er sagen musste:
„Daor schickt jou mien Heer ´ne Tunschere, daor käün i jouen klatterigen Baort mit schären!“
Der Bote soll, wie mein Vater versichern zu können glaubte, ein wenig unsanft aufgenommen worden sein. Und doch hat die Tunschere mit diesem Instrument nur ganz indirekt etwas zu tun, jedenfalls nicht soviel, dass es im Volksbewusstsein haften geblieben wäre. Das uralte Grundwort, älter als unsere Zeitrechnung, findet sich als scara die Grenze, scarian abtrennen, abreißen. Schar in diesem Sinne haben wir in „Pflugschar“: das (durch die Furche) eine Abgrenzung, Abtrennung Schaffende, was ja auch die Schere tut.
Im Altniedersächsischen, also der Sprache unserer Vorfahren vor anderthalbtausend Jahren, findet sich schon „scarig“ und „scherig“ in der Bedeutung „abtrennend“, ebenso im Friesischen (vgl. I. Schmidt-Petersen „Die Orts- und Flurnamen Nordfrieslands“, Husum 1925, S. 32). Die Tunscara war in uralter Zeit die nächste Umgebung des bäuerlichen Teil, die „Zaungrenze“. Diese Fläche pflegte ziemlich groß zu sein, da sie noch mehr wie heutzutage zum Anbau von Gemüse und Küchenkräutern benutzt wurde.
Im Holländischen heißt noch jetzt tuin soviel wie Hausgarten. Außerhalb der Tunschar lagen die den Liten und Heuerleuten dauernd oder für bestimmte Zeit gegen Abgabe und Dienstleistungen überwiesenen Grundstücke, innerhalb der Tunschar konnte aber niemand einen Fußbreit Grund und Boden zur privaten Bewirtschaftung erhalten. Während die Liten und Heuerleute nur zu bestimmten Arbeiten und Diensten auf dem Hofe verpflichtet waren, hatte der Besitzer auch Leute nötig, die ihm jederzeit zur Verfügung standen, und deren muss es ja, je nach den besonderen Verhältnissen, verschiedene Klassen gegeben haben.
Zunächst waren in der vorchristlichen Zeit Sklaven vorhanden, an deren Stelle später Leibeigene traten, die auf dem Gelände des Hofes eine Behausung mit ihrer Famile hatten; aber von diesen müssen wir die obengenannten „solivagi“ trennen, die 1) nicht verheiratet waren, 2) ihr Nachtlager innerhalb des Umgebungszaunes des Hofes hatten, vom Hofe selbst ihre Beköstigung erhielten. Diese hatten deshalb auch keinerlei Abgaben zu entrichten, sondern erhielten ihren Lohn in irgendeiner Form. Allgemein scheint diese Einrichtung nicht gewesen zu sein, sondern sich auf einzelne Gegenden und das individuelle Bedürfnis beschränkt zu haben. Alles aber, was an Personal irgendwie zum Hof gehörte, stand unter der Mundschaft des Besitzers und wurde in patriarchalischer Auffassung als eine Familie betrachtet, was besonders zur Jahreswende in die Erscheinung trat. Während die mit selbstbebautem Gelände ausgestatteten Hofangehörigen zu diesem Termin eine Anerkennungsgebühr zu entrichten hatten, fiel diese bei den Tunscherigen (oder Tunscharen) fort, oder richtiger: an deren Stelle trat eine sinnbildliche Anerkennung ihrer Abhängigkeit durch die Überreichung eines Kranzes: der Tunschere.
Im Laufe der Zeit hat das Verhältnis zwischen Besitzer und Gesinde einen wesentlichen Wandel erfahren und der ursprüngliche symbolische Gebrauch geriet in Bezug auf seine Bedeutung mehr und mehr in Vergessenheit, ohne damit ganz aus der Übung zu kommen. Sein Charakter als Zeichen der Ergebenheit und Zugehörigkeit ist aber im Volke haften geblieben und größtenteils auch die Form als Kranz beibehalten, ebenso der Name. Der Brauch selbst wie seine Benennung reicht die erste Zeit der Sesshaftigkeit zurück, also lange vor der Einführung des Christentums. Es würde eine nicht unbedeutsame volkskundliche Aufgabe sein, eine gründliche Nachforschung darüber anzustellen, in welchen Bezirken und unter welcher Form die Sitte der „Tunschere“ sich gefunden hat oder sich noch jetzt findet.
1) Auf dem Hümmling findet sich für Tunschere auch die Bezeichnung „Wärpelrout“. Das Grundwort „rout“ ist Rute (zum Schlagen); was „Wärpel“ bedeutet, kann ich nicht feststellen. Mit dem Bestimmungswort in dem Ortsnamen Werpeloh wird es wohl kaum etwas zu tun haben. Vgl. meine „Ortsnamen des Emsl.“, S. 59.
Quelle:
Emslandbuch 1928, ein Heimatbuch für die Kreise Meppen, Aschendorf, Hümmling, herausgegeben im Selbstverlag der Kreise