Hermann Abels
Unser Dörfchen Heede hat eine ähnliche Geschichte wie manches andere Dorf an der Unterems. Seit ewigen Zeiten haben Eis, Stürme und Wogen in immer zäher Arbeit Dorfanlage und Bevölkerung gestaltet. Neben dem in seinen Umrissen urgermanischen Dorfbilde findet man überall in dem weiten Stromgebiet der Ems so recht das greifbare Fühlen vom steten Kampf: Natur gegen Natur.
Und die Umgebung bildete auch den Menschenschlag, von denen Annette von Droste Hülshoff sagt, es seien „blasse, blonde stille Menschen mit Augen so klar wie am Weihersrand die Blitze der Welle fahren…“
Vor tausend Jahren wohnten hier genau dieselben Menschen mit denselben Fähigkeiten wie heute und nach tausend Jahren werden hier auch noch Menschen leben mit dem weiten Blick, der Bewohnern großer Ebenen eigen ist. Und solange nicht unerwartete Katastrophen die lebende Scholle tief erschüttern, wird für ewige Zeiten die Seele des heimatlichen Menschen in ihrer ganzen Tiefe und Größe sich aus der Umgebung selbst formen. An dieser Stelle soll aber nicht auf lange philosophische Erörterungen eingegangen werden, die mehr oder weniger der Auslegung und Kritik standhalten können, sondern die einleitenden Betrachtungen mögen zum Verständnisse des Heimatgefühls dienen.
Man darf wohl sagen, daß Heede seit seinen Uranfängen bis auf den heutigen Tag links des Emsstromgebietes gelegen hat. Das Emsgebiet ist nun keineswegs als eine schmale Flußrinne anzusehen, sondern vielmehr als eine mehrere km breite Fläche, in der sich der Fluß bald mehr westlich, bald mehr östlich dem Meere zugewälzt hat, um bei den einzelnen Flußbettverschiebungen, die übrigens bei vielen Flüssen beobachtet werden können, Kölke, Laaken, alte Flußrinnen usw. zurückzulassen.
Ein solches altes Stromgebiet, das sich geologisch betrachtet am Ende der Eiszeit gebildet haben muß, erstreckt sich zwischen Heede und Lehe, und merkwürdiger Weise finden wir in diesem Gebiet erstaunliche Formen einer Moränenlandschaft. Zum Beispiel stehen in den sog. „Achterbergen“ neben dem großen an der Südwestseite etwas steil abfallenden Rundhügel wie fein aufgebaute spitze Heuhaufen in einer flachen Ebene mehrere Sandkegel, die heute mit wildem Gras bewachsen sind. Sie reichen in geometrischer Höhe fast an unseren Kirchturm heran, müssen sich daher gebildet haben, als das ganze Land noch unter der dicken Eisdecke lag, etwa am Ende der Eiszeit. Ähnliche Sandkegel trifft man emsaufwärts öfters an.
Der große, stumpfe „Abeln Berg“ ist ebenfalls ein Gebilde dieser Zeit. Er muß noch bis zu unserer Zeitrechnung nebst der von Galenschen Besitzung Behrens östlich der Ems gelegen haben; bis vor einigen Jahren nämlich gehörten noch die jeweiligen Bewohner der jetzigen Pachtung Behrens zum Kirchspiel Aschendorf. Damals muß also die Ems zwischen dem Dorf Heede und der erwähnten Besitzung, die zu dem damaligen Heede gehörte, geflossen haben; ihren Lauf kann man heute noch deutlich verfolgen: Der sog. „Bröcks“, dann die Laake und schließlich die Bäke. Die alten Kirchen im unteren Emsgebiet sind auch überall möglichst nah am Wasser gebaut worden und zwar für die Gläubigen, die zu Schiff Sonntags kamen, und ebenfalls für die Marktbesucher, die mit ihren Kramsachen Sonntags und an den Markttagen per Schiff kamen, um die Waren bei der Kirche abzusetzen. Alte Leute erzählen noch heute, wie sie als Kinder auf die „Rebutschäpe“ warteten und dann fleißig mit ausladen halfen.
Wie kommt nun der zum Hause Heede gehörige Hof auf die rechte Emsseite und somit zum Kirchspiel Aschendorf? Es ist nicht anzunehmen, daß der damalige Herr von Haus Heede sich jenseits der Ems noch ein Bauernhaus leistete. Raum war ja sonst genug vorhanden. Vielmehr ist leicht ersichtlich, daß die erwähnte Besitzung zur Zeit der Entstehung links der Ems lag, später aber nach dem Durchbruch Bröck, Laake, Bäke, in der Zeit des Kirchbaus etwa um 800 n. Chr. rechts der Ems an das Kirchspiel Aschendorf gefallen ist. Die erwähnte Besitzung ist somit eine der ältesten Niederlassungen. Jetzt liegt dieselbe wieder linksseits. Die Ems dürfte also nicht lange den Weg durch Bröck, Laake und Bäke genommen haben. Nach der Überlieferung wird erzählt, daß man im Frühjahr oft nicht gewußt habe, wo nun eigentlich die Ems fließe. Oft auch begegnet uns heute noch der Name Wertmann = Sumpfmann. Die feuchten Wiesen jenseits der Laake werden vielfach Wertlande = Sumpfland genannt. Lange Zeit auch führte der Pächter des erwähnten Hofes den Namen Wertmann.
Das alte Fachwerkhaus, das im letzten Sommer durch einen Neubau ersetzt wurde, dürfte aus der Zeit des 30jährigen Krieges stammen. In der Mitte ragte ein mächtiger, massiver Schornstein aus dem Hause. Der Sockel war etwa 1,50 X 2,50 m im Schnitt und aus mächtig großen Ziegelsteinen in Lehm gemauert. In ihm eingelassen waren Backöfen und mehrere Borten zum Aufbewahren von Gerätschaften für den Hausgebrauch. Der „Bosen“ war so groß, daß ein ganzer gesalzener Ochse zum Trocknen darin aufbewahrt werden konnte. Der Abbruch des gewaltigen Steinklotzes bereitete nicht geringe Schwierigkeiten. In einer Höhe von ungefähr 1 m über dem Erdboden fand man ein altes Kreuz aus Zinn, das etwa 12 – 15 cm groß ist. Der Corpus weist charakteristische Züge für die Kunst der Darstellung Christi auf. Der Kopf Christi zeigt die alte romanische Darstellung, die hier öfters angetroffen wird.
Einige Einzelheiten seien noch über den bereits erwähnten „Abeln Berg“ gesagt. Er besteht aus grobem, schichtweise gelagertem Kiessand, auf dem nur eine Humusschicht von kaum 30 cm liegt. Er scheint seit alters her kahl und unbewachsen gewesen zu sein, wie, zumal nach seiner eigenartigen Lage im Gelände und in Hinblick auf die Funde, die im letzten Sommer hier an der höchst gelegenen Stelle gemacht wurden, auch berechtigt anzunehmen ist, daß sich hier eine Kultstätte unserer Altvorderen befunden hat. In einer Tiefe von 1 – 1 ½ m fand man beim Sandabfahren uraltes Mauerwerk aus großen Ziegelsteinen. Die Reste hatten aber im Laufe der Zeit von dem Eisengehalt des Bodens angenommen und schienen wie ungefügt rotbraune Klumpen.
Nach der Überlieferung haben auf dem jetzigen v. Galenschen Spiek auf den sogenannten „Windbergen“ eine oder mehrere Windmühlen gestanden. Diese dürften zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges vernichtet worden sein. In diesem Gelände wurde vor einigen Jahren gelegentlich der Sandabfuhr in der Erde verscharrt ein zerschlagener, vergoldeter, silberner Meßkelch nebst einer zierlichen Dose, welche wahrscheinlich der Hostienaufbewahrung gedient hat, gefunden. Bei ihnen handelt es sich um holländische, feine Handarbeit. Der Metallwert war aber keineswegs bedeutend, da die Gegenstände zum Teil nur schwach vergoldet waren. Vielleicht sind sie im dreißigjährigen, grausigen Kriege von einem Landsknecht geraubt und bei Nacht und Nebel bei der alten Mühle verscharrt worden, um dann erst nach 300 Jahren wieder ans Tageslicht zu kommen. Die alte Mühle ist längst verschwunden, nur der Volksmund sagt noch wo sie gestanden hat, „Mühlenberge“.
Nun sei etwas über die sogenannte Laake gesagt, deren geologische Entstehung bereits erwähnt ist. Der Volksglaube verbindet mit diesem, jetzt so still verlandenden Gewässer eine eigentümliche Scheu. Im Winter auch bei gutem Eis geht die Jugend noch heute lieber einen bedeutend längeren Weg zum mindestens ebenso gefährlichen Emsschlot als zur Laake. Diese Tatsache findet durch zwei Opfer, die das Eis auf der Laake vor vielen Jahren forderte, keine genügende Erklärung. Hier muß eine uralte vererbte Scheu vor Überirdischem zu Grunde liegen. Man erzählt immer noch von „Lichtbrennen“, Irrlichtern.
In letzter Zeit hat eine genaue Messung der Laake stattgefunden. Ihre tiefste Stelle befindet sich merkwürdigerweise da, wo die stärkste Versandung eingesetzt hat, in dem sogenannten „Dorch“; hier mißt man zur Zeit bis auf den Sand 6 – 7 m. Davon sind aber 4 m Schlick, der nach unten zu in eine steifer und fester werdende kohlschwarze Masse ausartet. Hier ist neuzeitliche Steinkohle oder Torf im Werden begriffen. Dieser Vorgang der Vermoderung unter teilweisem Luftabschnitt erzeugt eine Unmenge Sumpfgas, dem Methan, das brennbar ist und sich aus dem Kohlenstoff der vermodernden, unzähligen Organismen und den hinzutretenden Sauerstoff- und Wasserstoffatomen des Wassers bildet, um dann in dem Eise die großen Blasen zu erzeugen, die nirgends in hiesiger Gegend in solchem Ausmaße beobachtet werden können wie in der Laake. Im übrigen mißt man in der Laake eine Tiefe von 3,50 bis 4,50 m mit Ausnahme vor dem Tholenschen Hause, wo nur ein Wasserstand von ca. 2 m ist.
Der anschließende große Kolk ist bedeutend flacher und jünger. Er mißt an den tiefsten Stellen kaum 3 m, oft nicht über 2 m. Er hat festen und fast schlicklosen Untergrund. Der letztere verändert seine Farbe kaum, wenn ein Unwetter im Anzuge ist, während die Laake, was sehr eigenhaltig ist, in einer Stunde von der dunkelsten Farbe in eine gelbrote wechseln kann. Wenn man eine alte Skizze von dem Gewässer betrachtet, so ist es darin bedeutend weiter und größer gezeichnet, ein Zeichen, daß die Verlandung sichtbar immer schneller voranschreitet, und nach geschichtlich sehr kurzer Zeit wird man die Laake nur noch nach Berichten kennen. Im Sommer entwickelt die letztere ein wahres Naturparadies. Alle möglichen Sumpf- und Wasserpflanzen und Getier lassen Dichtung und Poesie dem einsamen Kahnfahrer zur friedlichen Wirklichkeit werden.
Wie viele, viele Menschenkinder haben in dieser so kurz beschriebenen langen Zeitspanne gelebt, sind den Leidensweg gegangen und sind versunken und vergessen. Auch Du, Leser, bist nur ein winziges Menschlein unter den vielen. Nach so und so viel Jahren denkt keiner mehr an Dich, aber der heimatliche Boden wird auch dann noch sein und auf ihm werden solche Menschen leben wie jetzt. Käthe Walter sagt:
„So scheint fast das Leben ein nutzloses Wandern.
Ein Kommen und Blühn, ein rasches Vergehn.
Und doch! Was wir gaben und wurden den andern
Das bleibt, ob die Winde der Zeit drüber wehn!“
Quelle: Mein Emsland Jahrgang 1934 Beilage zur Ems-Zeitung
Verlag: Theodor Rosell, Verlagsgeschäft der Ems-Zeitung, Papenburg