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Die Nachbarschaft im Emslande.

Von Hermann Abels.

Freude und Leid miteinander teilen ist die Grundlage alles sozialen Wesens, darauf beruht die Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit der Wohlfahrt und des Glückes in der Ehe, in der Familie, in der Gemeinde und damit im Staate und den Staatswesen untereinander. Zwischen Familie und Gemeinde fand sich im alten ungeschriebenen Volksrechte weiter Bezirke unserer Vorfahren noch ein Mittelglied, das als anerkannte geheiligte Einrichtung sich nur noch in wenigen und von diesen fast nur ländlichen Gegenden in unsere Zeit hinübergerettet hat, in den meisten aber bereits so lange zum großen Teil oder ganz aufgehoben ist, dass sich nicht einmal mehr eine Erinnerung daran erhalten hat: die Nachbarschaft.

Im ehemaligen niederstiftisch münsterschen Emslande jedoch und namentlich in dessen nördlicher Hälfte, etwa von Lathen bis Rhede an der ostfriesischen Grenze, besteht diese wohl sicher aus vorchristlicher Zeit überlieferte und nach Einführung des Christentums nur entsprechend abgeänderte Einrichtung noch bis auf den heutigen Tag bei der ansässigen Bevölkerung in alter Kraft, welche die Gewähr gibt, dass der neuzeitliche auflösende „Fortschritt“ ihrer sobald nicht Herr werden wird.

Der Grundgedanke der Nachbarschaft als sozialer Vereinigung ist, wie sich von selbst versteht, dass die örtliche Nähe des Wohnsitzes den einzelnen Familien die natürliche Pflicht auferlegt, sich in allen Lagen des Lebens gegenseitig auszuhelfen. Eine solche Pflicht besteht schon durch das allgemeine Sittengesetz, bei der Nachbarschaft aber, von der hier die Rede ist, erweitert sie sich dahin, dass in bestimmten Fällen und Vorkommnissen die sich gegenseitig als Nachbarn anerkennenden Familien die Pflicht und auch das Recht haben, ungerufen, unaufgefordert feststehende nachbarliche Verrichtungen zu übernehmen und auszuüben.

Die Nachbarschaft beschränkt sich auf die mit einem eigenen Hause ansässigen Familien; in einem Mietshause wohnende treten ohne weiteres in die zu dem betreffenden Hause gehörende Nachbarschaft ein. Eine weitere Eigentümlichkeit ist, dass die ein neuerbautes oder ein von einem Vorbesitzer käuflich erworbenes Haus beziehende Familie das Recht hat, diejenigen Familien zu bestimmen, welche zu ihrer Nachbarschaft gehören sollen, und dabei kommt es vor, dass ganz in der Nähe wohnende Familien nicht zu Nachbarn genommen und entfernter wohnende in die Nachbarschaft eingeschlossen werden. Zumeist pflegt ersteres dadurch begründet zu sein, dass solche Familien bereits eine größere Zahl Nachbarn besitzen und deren Erweiterung selbst nicht wünschen. Zuweilen geschieht es auch, dass Familien, welche, z. B. wegen Abbrennens des bisherigen Hauses, ihre Wohnstätte in einen anderen Teil der Ortschaft verlegen, von ihren alten anerkannten Nachbarn den einen oder andern, also nunmehr entfernter wohnenden beibehalten. Auch die Anzahl der Nachbarn ist in das Belieben gestellt, in der Regel beträgt sie nicht unter sechs; unter diesen befinden sich aber stets zwei, die einen besonderen Vorrang nach durch das Herkommen geschützten Pflichten und Rechten genießen und als Notnachbarn bezeichnet werden.

Für die Errichtung der als gültig zu betrachtenden Nachbarschaft bedarf es einer besonderen hergebrachten Förmlichkeit. Wenn eine Familie ein neuerbautes oder käuflich erworbenes oder auch ihr von einer andern Familie durch Erbschaft oder sonstige Übertragung zugefallenes Haus beziehen will, fragt sie bei denjenigen, die sie zu Nachbarn wünscht, dieserhalb an und lädt, wenn sie die Zusage erhält, die Hausfrau oder deren Stellvertreterin für eine bestimmte Zeit ein, um „Nachbarschaft zu tun“. Die Nachbarinnen finden sich dann ein und, falls es sich um ein neuerbautes und zum ersten Mal bezogenes Haus handelt, so walten zunächst die Notnachbarinnen ihres Amtes, indem sie unter Gebet das Feuer am häuslichen Herde (wenn auch nur meistens in sinnbildlicher Form) entzünden, dann folgt die Bewirtung durch einen Kaffeeklatsch, wobei beide Teile dieses Wortes zu ihrem Rechte kommen dürften.

Nachdem so die Nachbarschaft begründet ist, tritt sie bei den herkömmlichen großen Ereignissen im Familienleben in laufende Erscheinung, also bei Hochzeiten, Erscheinen des Nachwuchses und Todesfällen. Der Grundgedanke dabei ist, dass in solchen Fällen die betreffende Familie ganz oder zum Teile verhindert ist, den Aufgaben des Hauswesens gebührend nachzukommen und deshalb die Nachbarschaft die Pflicht hat, dem Herkommen entsprechend Aushilfe zu leisten.

Hochzeiten und Todesfälle, namentlich wenn es sich um erwachsene Tote handelt, erfordern der alten emsländischen Sitte gemäß für die betreffende Familie soviel Anstalten und Vorkehrungen, dass sie ihnen allein nicht gewachsen erscheint; deshalb pflegt für diese Tage die Fürsorge für das Hauswesen gänzlich an die Nachbarn unter Leitung der Notnachbarn überzugehen, ohne dass es dazu einer besonderen Aufforderung bedarf. Hierzu gehören auch die Vorbereitungs- wie die Aufräumungsarbeiten. Diese Verrichtungen gehen unter allen Umständen den eigenen Obliegenheiten vor, ohne Rücksicht auf Zeit und Dringlichkeit.

Den Anfang machen die Einladungen, die nach der von der Familie aufgestellten Liste von den Nachbarn persönlich zu erledigen sind, soweit es sich um nicht mehr als eine Tagereise handelt. In neuerer Zeit besorgt dies indessen die Familie selbst in der Regel durch die Post, nur die nicht zu entfernt wohnenden nächsten Anverwandten pflegen noch wohl nach altem Herkommen durch die Nachbarn persönlich eingeladen zu werden.

Dass bei der Hochzeit ein Festmahl stattfindet, ist selbstverständlich, aber auch nach dem Leichenbegängnis Erwachsener (vom althochd. „garȇwe“ „Grouwe“ genannt) wurde früher allgemein und auch jetzt noch vielfach im Trauerhause ein Mittagsmahl für die Verwandten veranstaltet, wobei die Speisenfolge herkömmlich war: Fleischsuppe, Sauerkraut oder Weißkohl mit Schinken, Reisbrei, Butter und Brot. Um den nötigen Vorrat an Schinken zu decken, hat jeder Nachbar bei einem solchen Vorfall einen Schinken zu liefern oder, wenn er einen solchen nicht beschaffen kann, als Ersatz etwas Gleichwertiges. Nötig werdende Töpfe, Geschirr, Tischwäsche u. dgl. nebst Tischen und Stühlen haben die Nachbarn herzugeben bzw. sich durch Leihen zu beschaffen.

Das Kochen besorgen die Nachbarfrauen unter Aufsicht und Verantwortung einer Notnachbarfrau, gewöhnlich der älteren. Vor und nach dem gemeinsamen Mahl spricht der eine Notnachbar das Tischgebet und gedenkt des jungen Paares bzw. fordert zum Gebet für die Seelenruhe des Hingeschiedenen auf. In neuester Zeit ist das noch deutlich auf die altsächsische Zeit hinweisende Totenmahl entweder ganz in Abgang gekommen oder auf den engsten Verwandtschaftskreis beschränkt oder durch einen Kaffee ersetzt worden.

Außer diesen Verpflichtungen für die Küche liegt den Nachbarn bei den in Rede stehenden Vorfällen noch eine Reihe anderer ob. So haben sie das Brautpaar bei der Rückkunft von der kirchlichen Trauung (in einem von der Nachbarschaft gestellten Wagen) in alter Form zu begrüßen, für die Musik zum Tanze zu sorgen, das Schenkenamt zu üben, den Hochzeitsgästen die Ausstattung der jungen Frau vor Augen zu führen und zu loben („puchen“), wobei die Gelegenheit zu allerlei harmlosen oder satirischen Scherzen nicht unbenutzt zu bleiben pflegt.

Bei Todesfällen sorgen die Nachbarfrauen für die Herrichtung der Leiche und das Einsargen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts hielten sie auch die seitdem im Emsland aufgehobene Totenwache, tragen den Sarg auf ihren Schultern zum Friedhof oder heben ihn bei weiterer Entfernung von diesem auf einen Leiterwagen, um ihn auf dem Friedhof ins Grab zu senken. Auf dem Leiterwagen vor dem Sarge nehmen, nebenbei bemerkt, zwei von den nächsten weiblichen Anverwandten Platz; diese trugen bis vor wenigen Jahrzehnten bei diesem Anlass und sechs Sonntage nachher weiß gestärkte Schultertücher, die bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts von den Frauen auch zur Osterkommunion angelegt wurden, wohl ein Anzeichen dafür, dass ehedem Weiß dort die höchste Trauer- und Festesfarbe zugleich war.

Bei Geburtsfällen ist die Verpflichtung der Nachbarschaft wesentlich einfacher. Sie beschränkt sich darauf, dass die Frau eines Notnachbarn oder in deren Verhinderung die eines anderen im Haushalt mithilft, der Wöchnerin Dienste leistet, den Kaffee nach der Tauffeierlichkeit („Kilber“ = Kindelbier genannt) zurichtet.

Die einmal geschlossene Nachbarschaft vererbt sich von Geschlecht auf Geschlecht, so dass sie bei alten Siedlungen manchmal auf undenkliche Zeiten zurückreicht. Ob das Recht des Herkommens eine förmliche Aufkündigung gestattet, muss ich unentschieden lassen, mir ist wenigstens ein solcher Fall nicht bekannt geworden und bestimmte Auskunft konnte ich auf Befragen nicht erlangen, so dass man sagen darf, dass die Aufhebung, wenn sie überhaupt vorkommt, sich auf sehr seltene Ausnahmefälle beschränkt.

 

Quelle: Heimatblätter der Roten Erde 1. Jahrgang 1919

Verlag: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster i. W.

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